Anzeige

Kapitän und Kämpfer Marco Russ: „Die Eintracht von heute ist in Nürnberg geboren“

Marco Russ und Alex Reichwein im Foyer des neuen Eintracht-Profi-Camp "Im Herzen von Europa" im Deutsche Bank-Park. (Quelle: Alex Reichwein)

Er ist groß, wuchtig – und gleichzeitig zurückhaltend. Er spricht über den Fußball wie über den Ernst des Lebens – in seinen Worten stets bedacht. Er kennt Abstiege und Pokalsiege – und niederschmetternde Arztdiagnosen. Marco Russ (38) ist ein besonderer Teil von Eintracht Frankfurt – geworden: erst leise und eher unauffällig, dann im Spielstil brachial und schließlich irgendwie heldenhaft.

Marco Russ steht für zwei sehr unterschiedliche Eintracht-Jahrzehnte: Zweitliga-Fußball, die Etablierung in der Belle Etage und die Rückkehr auf die europäische Bühne in der Funkel-Ära. Und für große Europapokalnächte in San Siro und an der Stamford Bridge, drei Pokalfinals und den Triumph über die Bayern in Berlin. Der spätere Kapitän und heutige Analyst im Eintracht-Profi-Camp spricht im flw24-Interview über (s)eine Kindheit bei der Eintracht, seinen Abschied und die Wiederkehr nach Frankfurt – und über das „Schlüsselerlebnis Nürnberg“.

 

flw24: Marco, was tausende Kinder, die den Traum Fußballprofi haben, interessieren dürfte: Wie kamst Du aus dem Hanauer Umland zur Eintracht?

Marco Russ: Meine Wurzeln liegen in Großauheim beim VfB 06; dort habe ich mit dem Sohn von Jan Furtok, der ja Anfang der 1990er Jahre an der Seite von Anthony Yeboah stürmte, gespielt. Bei Turnieren haben wir immer auch gegen Eintracht-Jugendteams gespielt. Irgendwann hat mich ein Scout entdeckt. Das war schon in der F-Jugend.

 

„Die Schule und den Fußball konnte ich gut verbinden“

 

Meine Eltern hatten natürlich die Schule im Kopf, Fußball sollte ein Hobby und Ausgleich sein. In der D-Jugend fragte die Eintracht dann wieder an. Und weil es von zuhause zum Riederwald nicht zu weit war, und ich Schule und Training verbinden konnte, hat es dann geklappt. Das war 1996, da war ich elf Jahre alt. Ich musste also in kein Internat, sondern konnte im gewohnten Umfeld bleiben.

flw24: Wer war Dein erster Trainer und Förderer? Und welche Position hast Du gespielt?

Marco Russ: Rainer Ochs, der Vater von Patrick Ochs. Er und Zimbo (Anm. d. Red.: Jan Zimmermann, Torwarttrainer der Eintracht) und Daniyel Cimen waren meine Mitspieler. Meine Position war im Mittelfeld, durch meine Größe wurde ich dann Manndecker, ein typischer 4er, später mit der Rückennummer 23.

flw24: 1996 – das war der erste Abstieg der Eintracht aus der Bundesliga.

Marco Russ: Das hatte für mich persönlich damals keine Auswirkung.

 

„Vom Azubi zum Stammspieler unter Funkel“

 

flw24: Wie gelang dann der Schritt zum Profifußball? Das schaffen ja nicht viele Jugendspieler, auch nicht bei der Eintracht.

Marco Russ: Ich hatte natürlich eine sehr gute Förderung in der Jugend und zwischen 1996 und 2004 alle Altersstufen durchlaufen. Mit 18 durfte ich schon bei den damaligen Eintracht Amateuren ran, 2003 war das. Und 2004 berief mich der damalige Trainer Friedhelm Funkel dann in den Profikader.

flw24: Dann war gleich das erste Jahr durch einen Erfolg gekrönt.

Marco Russ: Ja, der Wiederaufstieg in der Saison 2004/05 in die Bundesliga. Mit den jungen Alex Meier sowie Alex Huber und Christian Reinhard an meiner Seite. Wir waren quasi die Auszubildenden neben gestandenen Spielern wie Iannis Amanatidis, unserem damaligen Brasilianer Chris oder Markus Weissenberger.

flw24: Glück gehabt: Friedhelm Funkel setzte sowohl auf defensiven Fußball als auch auf Leute aus den eigenen Reihen?

Marco Russ: Ja, der Fußball Marke Eintracht war damals defensiver als heute. Er war aber auch dazu gezwungen. Die finanziellen Möglichkeiten der Eintracht waren eng gesteckt.

flw24: Wann hattest Du Deinen Durchbruch zur Stammkraft?

Marco Russ: In der Saison 2005/06, insbesondere in der Rückrunde. Am Ende der Saison standen wir im DFB-Pokalfinale gegen die Bayern.

flw24: Das war ein knappes und auch unglückliches 0-1 damals.

Marco Russ: Die waren schon damals eine Übermacht mit Spielern wie Ballack, Schweinsteiger und Kahn. Sie gewannen zwei Doubles hintereinander unter Felix Magath. Aber wir haben das gut gemacht.

 

„Der Fan-Support war schon 2006/07 überragend, aber noch anders“

 

flw24: Das gilt auch für die erste Europapokaltour seit gefühlt Ewigkeiten.

Marco Russ: Ja, die Reise im damaligen UEFA-Cup-Wettbewerb war erst am letzten Gruppenspieltag zu Ende, wegen des 2-2 in Istanbul gegen Fenerbahce. Der Support unserer Fans war schon damals überragend, aber noch anders als heute.

flw24: Will heißen?

Marco Russ: Damals gab es nach drei Niederlagen schon auch klare Kritik aus der Fanszene. Heute gibt es eine neue Verbindung zwischen Team und Fans, die ist nochmal intensiver. Die meisten Fans haben heute ein Gespür für Belastungen und für das Level, auf dem Eintracht Frankfurt nun ist; und sie gehen mit Niederlagen anders um.

flw24: Nochmal zurück zu Friedhelm Funkel: Er war Dein Förderer?

Marco Russ: Das kann man so sehen. Ein strenger Trainer und Fußballfachmann, aber sehr menschlich. Wir haben bis heute ein sehr gutes Verhältnis.

 

„Warum Wolfsburg? Ich wollte raus aus der Komfortzone, nicht fliehen“

 

flw24: Ist sein Ende bei der Eintracht 2009 auch der Grund Deines Wechsels 2011 – nach Wolfsburg!?

Marco Russ: Vorab: Es war keine Flucht wegen des Abstiegs 2011. Den Vorwurf hatte man mir gemacht.

flw24: Sondern?

Marco Russ: Mein Wechsel stand für mich schon am Ende der Hinrunde 2010/11 fest, da waren wir nach einem Sieg gegen den BVB gar Tabellenfünfter unter Michael Skibbe. Ich wollte mal was anders sehen. Neue Reize setzen. Raus aus der Komfortzone bei der Eintracht, die unter Friedhelm ein gefestigter Bundesligist geworden war. Irgendwie war alles eingefahren und ich hatte das Gefühl, nochmal was Neues machen zu müssen.   

flw24: Wolfsburg war schon damals so ziemlich das Gegenteil von Frankfurt: die Stadt, die Tradition, die Fanszene.

Marco Russ: Mein Berater konnte mir damals den FC Sunderland, einen spanischen Klub und die Wölfe bieten. Bei Letzteren hatte einfach das Gesamtpaket für mich und meine Familie gepasst.

flw24: Ein Jahr, 2011/12, Fußballprofi unter Felix Magath: Hart! Ist er der harte Trainerhund?

Marco Russ: Ich habe dort viel gelernt und mich defensiv nochmal weiterentwickelt. Das erste Jahr war top, an der Seite von Paddy Ochs, Alexander Madlung und unserem „Hase“ (Anm. d. Red.: Makoto Hasebe) – alles ehemalige oder zukünftige Adlerträger (lacht). Das zweite Jahr, in dem auch Magath ging, war dann zäh. Ich spielte auch keine Rolle mehr unter dem neuen Trainer Dieter Hecking. So läuft das eben manchmal im Profigeschäft.

flw24: Wie kam es dann zur Rückkehr – und Deiner zweiten, besten Zeit bei der Eintracht?

 

„Heribert Bruchhagen wollte mich eigentlich nicht zurückholen“

 

Marco Russ: Armin Veh, der in der Saison 2012/13 als Aufsteiger mit der Eintracht direkt die Qualifikation für die Europa League geschafft hatte, wollte mich unbedingt haben. Im Raum stand eine Leihe oder der Kauf aus dem Vertrag in Wolfsburg heraus. Klaus Allofs, damals Manager bei den Wölfen, war da sehr entgegenkommend und wickelte den Deal cool ab. Der Einzige, der anfangs skeptisch war und mich eigentlich nicht zurückholen wollte, war Heribert Bruchhagen, der damalige Eintracht-Vorstandsvorsitzende.

flw24: Hat er das begründet?

Marco Russ: Mit den Finanzen. Ich musste ja aus einem laufenden Vertrag herausgekauft werden. Aber am Ende war es für alle Seiten eine gute Lösung.

flw24: Dein Verhältnis zu Bruchhagen ist …

Marco Russ: gut. Ohne ihn wäre die Eintracht heute nicht da, wo sie ist. Er hat immer aus der Perspektive des seriösen Geschäftsmannes das Wohl des Vereins und die Finanzen im Blick gehabt. Er hat die Eintracht seit 2003 wieder stabilisiert und etabliert, langsam, aber gezielt. Und in seine Zeit fällt auch viel sportliche Kontinuität. Er hat unter anderem Alex Meier geholt. Es gab nie Probleme zwischen uns, wir schätzen uns.

flw24: Viele Fans sehen das genauso, dass Bruchhagen im richtigen Moment da war und in der richtigen Zeitspanne in der Verantwortung stand. Sie sagen aber auch, dass er am Ende vielleicht ein Jahr zu lang im Amt war. Und ein Abstieg in Nürnberg in der Relegation 2016 hätte vermutlich seinen Ruf und das Aufbauwerk Eintracht Frankfurt zerstört.

 

„Die Eintracht-Titel der letzten Jahre sind in Nürnberg geboren“

 

Marco Russ: Die Relegation gegen Nürnberg war meiner Meinung nach in vielerlei Hinsicht der Knackpunkt der jüngeren Vereinsgeschichte. Wenn wir da abgestiegen wären, stünden wir jetzt wahrscheinlich Lichtjahre entfernt von der Spitzengruppe der Liga, auch finanziell. Von da an ging es bis heute praktisch nur bergauf: National und international. Sportlich und finanziell. Und was die Größe und Außenwirkung des Vereins und der Fanszene betrifft. Man kann auch sagen: Die Eintracht von heute ist in Nürnberg geboren. Und die jüngsten Titel auch.

flw24: Und Du spieltest in Deiner zweiten Zeit eine entscheidende Rolle: Als Führungsspieler, später Kapitän und - mit Alex Meier - als Kontinuitätselement aus den 2010er Jahren. Und Du hast insgesamt drei Pokalfinals und ein Euro-Halbfinale gespielt. Das ist mehr als beachtlich.

Marco Russ: Ich möchte in dem Zusammenhang noch an Timothy Chandler erinnern, der ja auch zurückkam – aus Nürnberg übrigens – und ein Gesicht der Eintracht ist.

flw24: 2004 bis 2011 und 2013 bis 2020: Was war neu für Dich?

Marco Russ: Neben den Erfolgen die Symbiose mit den Fans und die organisierte Fanszene. Was sich beispielsweise in der Europa-League-Saison 2018/19 in Mailand, Lissabon oder Chelsea abgespielt hat war Wahnsinn. Von Barcelona ganz zu schweigen.

flw24: Gibt es ein neues Selbstverständnis bei der Eintracht?

Marco Russ: Die Erwartungshaltung ist natürlich sehr groß, auch der Verein will regelmäßig um und in Europa spielen. Aber die Mehrheit der Fans etwa ist relaxed und weiß, wie steil und steinig der Weg nach ganz oben ist.

flw24: Du hast 2020 aufgehört, zwei Jahre vor dem Triumph von Sevilla. Hast Du Dich mal darüber geärgert?

Marco Russ: Nein. Ich hatte einfach zu viele körperliche Beschwerden. Vor allem, nachdem ich mir gegen Vaduz in der EL-Qualifikation die Achillesverse gerissen hatte. Und das Sprunggelenk tat weh. Es war morgens mehr und mehr eine Quälerei. Aber ich bin ja bei der Eintracht geblieben, als Analyst im Lizenzspielerbereich. Ich fühle mich pudelwohl.

flw24: Das erinnert alles an unseren Kapitän Sebastian Rode – und weist hoffentlich seinen Weg in die Zukunft.

 

„Raphael Schäfer hat sich am nächsten Tag persönlich bei mir entschuldigt“

 

flw24: Schließen wir mit dem wahren Leben, in Deinem Fall ist das unumgänglich. Mai 2016, vor dem ersten Relegationsspiel in Frankfurt gegen den Club. Die obligatorische Dopingprobe der NADA. Du bist ein Ausgesuchter. Die Werte: ungewöhnlich. Die harte Diagnose: Hodenkrebs. Und dann?

Marco Russ: Hat unsere Presseabteilung in Absprache mit Niko Kovac, Heribert Bruchhagen und mir die Meldung veröffentlicht, damit keine Missverständnisse entstehen und der Verein geschädigt wird. Und dann habe ich gespielt und ein Eigentor geschossen.

flw24: Warst Du im Anschluss sauer auf Raphael Schäfer? Der damalige Torwart sprach von Doping.

Marco Russ: Er wusste ja nicht, was los war. Er wollte seinem Club einen Vorteil verschaffen. Da schlägt man auch mal über die Stränge. Er hat mich gleich am nächsten Tag angerufen und sich entschuldigt. Es tat ihm leid. Das habe ich gemerkt. Und gut war es zwischen uns.

flw24: Du fühltest Dich vor dem Rückspiel hilflos? Ohnmächtig?

Marco Russ: Müde. Ich war im Krankenhaus, wurde am Tag des Rückspiels operiert und habe den 0-1 Sieg und die Rettung auf dem Fernseher aus dem Krankenbett verfolgt.

flw24: Wie verlief die Chemotherapie?

Marco Russ: Gut, ich hatte ja auch sportlich schnell wieder den Anschluss geschafft. Die Anteilnahme war auch groß. Spieler wie Rafinha, Hummels und andere haben angerufen, mich besucht, geschrieben. Die Solidarität im harten Profigeschäft ist in diesen Fällen sehr groß. Da gibt es keine Farben, nur eine Sache: Anteilnahme und Gesundheit. Das sieht man ja auch bei den jüngsten Fällen von Krebs in der Bundesliga. Vielleicht haben diese „prominenten“ Fälle wie meiner oder der von unserem Ex-Adler Sebastian Haller den Vorteil, dass eine breite Öffentlichkeit aufmerksam, informiert und sensibilisiert wird. Und Vorsorge mehr in den Fokus rückt. Das wäre zu wünschen.

 

Das Interview für flw24.de führte Alex Reichwein.

 

Weitere Interviews von Alex Reichwein:

Ervin Skela

David Wagner

Norbert Nachtweih

Niko & Christos Arnautis

Uwe Bein

Alex Schur

Thomas Schaaf

Heribert Bruchhagen

Peter Fischer

Rudi Bommer

Rolf Heller

Manni Binz