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Norbert Nachtweih: „Mein schönster Titel war der Uefa-Cup mit der Eintracht“

Er ist der erfolgreichste deutsche Profi-Fußballer aus dem Osten. Er gehört zur Geschichte von Eintracht Frankfurt. Und er hat ein Stück deutsch-deutsche Geschichte geschrieben. Norbert Nachtweih spricht über seine riskante Flucht in den Westen, seine schwierige Anfangszeit in Frankfurt – und darüber, ob er seine Stasi-Akte weiterliest.

Norbert Nachtweih (64) ist der erfolgreichste deutsche Fußballer aus dem ehemaligen Osten. In 22 Jahren Profi-Fußball spielte er für den Halleschen FC (1974-1976), Eintracht Frankfurt (1978-1982), Bayern München (1982-1989), den AS Cannes (1989-1991) und Waldhof Mannheim (1991-1996) sowie die U21 der damaligen DDR (1975-1976). Mit der Eintracht gewann er den UEFA-Cup (1980) und den DFB-Pokal (1981). Mit den Bayern wurde er vier Mal Deutscher Meister (1985, 1986, 1987, 1989) und zwei Mal Pokalsieger (1984, 1986). Und er hat ein Stück deutsch-deutsche Geschichte geschrieben. Der gebürtige Sachse (Sangerhausen), seit 2005 Jugend-Trainer in der Eintracht Frankfurt-Fußballschule, spricht im flw24-Interview über seine riskante Flucht in den Westen, seine schwierige Anfangszeit in Frankfurt und wie er mit seiner Stasi-Akte umgeht.


ALEX REICHWEIN IM INTERVIEW MIT NORBERT NACHTWEIH
 

flw24.de: Herr Nachtweih, in der NDR-Sportclub-Doku „Vom Flüchtling zum Bayern-Star“ begeben Sie sich auf eine Zeitreise. Sie schildern nochmals die Umstände Ihrer Flucht im November 1976 aus Bursa, wo Sie mit der U21 der DDR an der EM teilnahmen. Hatten Sie keine Angst? Zum Beispiel, dass der fremde Mann, den Sie an der Bar im Mannschaftshotel kennengelernt hatten und der Ihnen und dem späteren Eintracht-Torwart Jürgen Pahl die Flucht angeboten und dann auch alles arrangiert hatte, Sie reinlegt. Er hätte sie beide ja auch im Auftrag der Staatssicherheit auf Ihre „Republikstreue“ testen können. Sie wären im Gefängnis gelandet und Ihre Karriere wäre früh zu Ende gewesen.

Norbert Nachtweih: Jürgen und ich haben damals gar nicht nachgedacht, in welche Gefahr wir uns begeben und welche Risiken wir eingehen. Wir waren blauäugig und naiv. Eine Flucht hatte für mich bis dato nie eine große Rolle gespielt. Aber mir war im Unterbewusstsein immer klar: Wenn sich eines Tages die Chance ergibt, dann musst Du sie nutzen. Und der Mann, ein junger Amerikaner, war unsere Chance. Also haben wir uns, wie an der Hotelbar geplant, am nächsten Tag während des Ausflugs auf den berühmten Großen Basar in Istanbul, kurz vor dem Rückflug nach Ost-Berlin, vom Team getrennt. Wir sind mit einem Taxi in ein Hotel gefahren, wo der Amerikaner bereits wartete. Der brachte uns dann tatsächlich in die US-Botschaft. Und die flog uns aus nach München. Es war alles so unglaublich einfach. Und gefährlich, ja. Denn wir konnten ja auch nicht sicher sein, dass die Türkei uns nicht doch an Ost-Berlin ausliefert. Später habe ich mich oft gefragt, wie ich dem Amerikaner vertrauen konnte.

„Später fragte ich mich: Wie konntest Du dem Amerikaner vertrauen?“

flw24.de: Glück gehabt! Wer war Ihr Helfer? Haben Sie ihn jemals wieder getroffen?

Norbert Nachtweih: Ein Reiseführer mit besten Kontakten zur US-Botschaft in Istanbul. Nein, ich habe ihn nie mehr gesehen. Er war mein Ticket in die Freiheit, bei dem ich mich nie persönlich bedanken konnte.     

flw24.de: Ihre Flucht bedeutete, dass Sie alles hinter sich lassen mussten. Auch ihre Familie. 

Norbert Nachtweih: Das wurde mir erst in dem Moment, als ich ins Taxi gestiegen war, klar. Kein Abschied war möglich gewesen. Vermutlich würde es kein Wiedersehen geben. Und ich musste ein neues Leben beginnen. Wenn Jürgen Pahl zurückgezogen hätte, hätte ich das auch gemacht. Ich war viel zu ängstlich. Aber Jürgen war der Taktgeber, er sprach auch Englisch. Und so ist alles anders gekommen. Und erst Jahre später, 1990, konnte ich meine Familie wiedersehen. Die war nach meiner Flucht natürlich von der Stasi verhört und immer wieder nach mir gefragt worden. Die Sorge um meine Familie war mein Preis für meine Karriere.    

flw24.de: Was passierte in München? 

Norbert Nachtweih: In München wurden wir vom Bundesnachrichtendienst verhört – und am Abend durften wir das Weltpokalfinale der Bayern gegen Cruzeiro Belo Horizonte anschauen. 2-0. Absurd war das. Und dass ich später mal für die Bayern weitere Titel gewinnen sollte, war damals unvorstellbar für mich. Dann wurden wir nach Gießen ins Zentrale Aufnahmelager für DDR-Flüchtlinge gebracht. Dort habe ich einige Wochen in der Tristesse gelebt. Und ich habe viele verzweifelte Menschen, die geflohen waren, erlebt: heimatlos, illusionslos, ohne Zukunftspläne.   

„Ich habe viele verzweifelte Menschen, Flüchtlinge, erlebt“

flw24.de: Die Eintracht war Ihre Rettung und Ihr Eintritt in ein neues Leben. Wie kam das?

Norbert Nachtweih: Das hing mit Wolfgang Mischnick zusammen. Der war selbst Flüchtling gewesen und hatte aufgrund seiner politischen Ämter (Anm. d. Red.: Der langjährige FDP-Bundestagsfraktionsvorsitzende war Bundesminister für Vertriebene und Flüchtlinge) beste Kontakte nach Ost-Berlin. Er war im Verwaltungsrat der Eintracht. Herr Mischnick hatte von Jürgen Pahl und mir gehört und kam nach Gießen. Und er vermittelte unseren ersten Profivertrag.  

flw24.de: Sie hatten also zum zweiten Mal in Ihrem Leben richtig viel Glück?

Norbert Nachtweih: Ja. Das kann und sollte man so sehen und dankbar dafür sein.

flw24.de: In Frankfurt galt es dann zunächst, das eine Jahr Sperre auszusitzen, die die FIFA gemäß den Regularien auf Drängen des DDR-Verbandes gegen Sie verhängt hatte. Sie konnten nur trainieren mit den Profis – dafür aber das Nachtleben genießen. Ihr damaliger Trainer, Gyula Loránt, nannte Sie „Nachtfalter“. Später sollten Sie in München den Titel „Vergnügungswart“ führen. Auch hier fragt man sich: Liebten Sie das Risiko? Hatten Sie keine Angst, Ihre gerade beginnende Karriere zu ruinieren?  

„Wir waren 19 Jahre eingesperrt – Frankfurt war die große Freiheit“

Norbert Nachtweih: Auch hier habe ich nie nachgedacht, in welche Gefahr ich mich begab. Zum Beispiel konnte die Stasi ja auch im Westen zugreifen: ein Betäubungsmittel in einen Drink, ins Auto und zurück nach Ost-Berlin. Aber wir waren jung und wollten das neue Leben genießen. Wir waren 19 Jahre eingesperrt gewesen. Frankfurt war die große Freiheit.

flw24.de: Oder die Stasi hätte einen Anschlag auf Sie verüben können? In der SC-Doku wird an das Schicksal von Lutz Eigendorf (damals Eintracht Braunschweig) erinnert: Der kam 1983 bei einem Autounfall ums Leben, dessen Ursachen nie aufgeklärt worden war.

Norbert Nachtweih (sichtlich betroffen): Es ist bis heute unklar, was passiert ist. Lutz hatte nach seiner Flucht ja auch öffentlich politisch gegen das Regime argumentiert … .  

flw24.de: Haben Sie sich jemals als feige empfunden? Denn Sie haben ja immer die Begründung „aus sportlichen Gründen geflohen“ gewählt. Hatten Sie trotzdem Angst, Ihnen könnte etwas zustoßen?

Norbert Nachtweih: Ich habe es so gemeint, wie ich es gesagt habe. Ich war ja auch Nutznießer des Systems und hatte Privilegien wie das Reisen. Das habe ich auch immer wieder gesagt. Und die Sorgen um meine Familie habe ich durch den Sport verdrängt.

flw24.de: Als sie dann spielberechtigt waren, ab Januar 1978, ließen die Erfolge mit der Eintracht und später mit den Bayern nicht lange auf sich warten. Sie konnten offenbar Leistungssport und Privatleben sehr gut in Einklang bringen. Was war Ihr schönster Erfolg?

„Mein schönster Erfolg war der Uefa-Cup mit der Eintracht“

Norbert Nachtweih: Der Uefa-Cup 1980. Weil die Mannschaft so hochkarätig besetzt war und so tollen Offensiv-Fußball gespielt hatte. Schade, dass wir nie die zweite Meisterschale nach Frankfurt geholt haben.  

flw24.de: Gibt es Gründe dafür?

Norbert Nachtweih: Ein Grund war sicher, dass es nach dem Pokalsieg 1981 gegen Kaiserslautern (Anm. d. Red.: 3-1, in Stuttgart) einen Bruch gab. Jürgen Grabowski musste verletzungsbedingt seine Karriere beenden. Gleiches galt für den Klasse-Stürmer Harald „Schädel-Harry“ Karger. Bernd Hölzenbein wollte sich nochmal verändern. Weitere Weltklasse-Spieler wie Bruno Pezzey (Anm. d. Red.: 1983 zu Werder) und Cha Bum-kun (Anm. d. Redaktion: 1983 nach Leverkusen) gingen weg. Und die jungen Spieler wie Thomas Berthold und Ralf Falkenmeier brauchten noch Zeit. Und dann war das Momentum weg. 

flw24.de: Das Momentum hatten Sie nach dem Wechsel zu den Bayern 1982 dann gleich mehrmals. Nach Istanbul und Frankfurt war das Glück ein drittes Mal auf Ihrer Seite.

Norbert Nachtweih: Im Grunde habe ich nur einen großen Titel nicht gewonnen: den Landesmeister-Cup (Anm. d. Red.: Champions-League). In Wien. 1987. Gegen den FC Porto.

flw24.de: Was verbinden Sie noch mit den Bayern, außer Titel?

Norbert Nachtweih: UIi Hoeneß. Und die Hilfsbereitschaft. Als ich mich finanziell durch Geldanlagen in Probleme gebracht hatte, haben mir der Verein und Uli geholfen. Das ist bis heute typisch für beide. Es ist gar nicht bekannt, wem Uli schon alles geholfen hat.

flw24.de: Haben Sie es nie als Niederlage empfunden, nicht für die Nationalmannschaft West-Deutschlands spielen zu dürfen wegen Ihrer lebenslangen Sperre? Auf diese hatte das DDR-Regime erfolgreich bei der FIFA gedrängt. Sie hätten bei Ihren fußballerischen Qualitäten, die in der SC-Doku von Charly Körbel und Uli Hoeneß gleichermaßen hervorgehoben werden, sicher in den drei WM-Finals (1982, 1986 und 1990) stehen können. Und Sie wären vielleicht in Rom Weltmeister geworden? 

Norbert Nachtweih: Klar ist das im Nachhinein ärgerlich. Zumal ich weiß, dass ich als Bayern-Profi beim damaligen Team-Chef Franz Beckenbauer sehr gute Karten im Defensivbereich gehabt hätte. Aber als Spieler habe ich das verdrängt. Ich konnte es ja nicht ändern.

„Mein einziger sportlicher Fehler war die Rückkehr zur Eintracht“

flw24.de: Welche Fehler haben Sie in Ihrer Karriere gemacht? Das Gastspiel in Cannes? 

Norbert Nachtweih: Das sehe ich nicht so. Mein sportlich vielleicht einziger Fehler war, 1991 das vorliegende Angebot des VfB Stuttgart nicht angenommen zu haben und stattdessen nochmal zur Eintracht gegangen zu sein. Der damalige Trainer, Dragoslav Stepanovic, hatte mich gar nicht gewollt, das aber nie so gegenüber dem Verein gesagt. Und so kamen wir, die wir noch zusammengespielt hatten, uns ins Gehege. Ich bin schnell wieder weg, nach Mannheim.    

flw24.de: Sie wirken zufrieden und in sich ruhend. Ist der größte Mut, den Sie bisher beweisen mussten, der, zurückzublicken? Sie lesen derzeit Ihre Stasi-Akte. Dort steht „Sportverräter“ drauf geschrieben. Wie verarbeiten Sie das, was Sie über sich erfahren müssen?

„Ich möchte vielleicht gar nicht wissen, was die Stasi geplant hatte“

Norbert Nachtweih: Alles, was ich bisher gelesen habe, lässt mich noch ruhig schlafen. Aber ich habe längst noch nicht alles gesichtet. Ich denke, es ist besser, alles ruhen zu lassen. 

flw24.de: In der SC-Doku heißt es am Ende, Ihre Geschichte sei noch nicht zu Ende erzählt.

Norbert Nachtweih: Vielleicht doch! Ich möchte gar nicht für den Rest meines Lebens wissen, wer mich beschattet hat. Oder dass die Flucht in Istanbul auch hätte scheitern können. Dass meine Familie wegen mir womöglich in Gefahr war. Dass es vielleicht Versuche der Stasi gab, mich zurückzuholen. Oder dass auch ich einen Autounfall hätte haben sollen.  


Das Interview für flw24.de führte Alex Reichwein.