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Unvollendeter Gigant - Arsène Wenger sagt Servus in Highbury

flw24-Kolumnist Claus Coester.

1996 entschied sich der Nord-Londoner Traditionsverein FC Arsenal für einen lediglich in Expertenkreisen bekannten Übungsleiter aus Kontinentaleuropa. Dies war damals noch eine Ausnahme. Mit Arsène Wenger, einem damals Mittvierziger Elsässer, muttersprachlich deutsch, ohne Frage auch frankophon, mit mediokrer Karriere als aktiver Fußballer (bei 10 Einsätzen für Racing Straßburg französischer Meister) kam ein No-Name-Manager ins ehrwürdige Highbury-Stadion, das damals noch die Heimstatt des Premier League Klubs war. Dass der Aufenthalt des hochaufgeschossenen Franzosen auf der Insel 22 Jahre währen sollte, konnte damals niemand ahnen. Am Ende der laufenden Spielzeit wird Wenger, der während seiner Ära nach und nach mit allumfassenden Kompetenzen ausgestattet wurde, den Klub nach eigenem Entschluss verlassen. Eine kluge Tat. In zwei Jahrzehnten hatte er den Verein zu einer Topadresse des europäischen Fußballs gemacht.

Über die Deanglisierung zur Europäisierung

Waren die Gunners bis in die Mitte der 1990er Jahre im Wesentlichen mit englischen Akteuren besetzt, so erwies sich der neue Mann auf der Kommandobrücke im Londoner Stadtbezirk Islington als Trendsetter für eine Personalentwicklung, die wir heute europaweit als ganz normal empfinden. Die Teams der Premier League sind nicht erst seit gestern gespickt mit Spielern aus aller Welt. Das ist im Bundesligafußball und anderswo nicht anders. Arsène Wenger war sozusagen der Pionier dieser Entwicklung, mit der gleichzeitig ein Qualitätssprung im englischen Klubfußball einsetzte. Fußball wandelte sich nun in Nord-London zum Ästhetischen. Wenger, ökonomisch auch ein Fuchs, lockte für ein Butterbrot aus Paris Nicolas Anelka nach Highbury. Später wurde dieser mit riesiger Wertschöpfung zu Real Madrid transferiert. Anelka war beileibe nicht der einzige Profi, der Arsenal viel Geld in die Kassen spülte. Die Reihe von Stars aus Westeuropa, vornehmlich Frankreich und die Niederlande, bald auch Afrika, die dem Ruf des Straßburgers auf die Insel folgten, ist schier unendlich. Sie ist mit Marc Overmars, Patrick Vieira oder Dennis Bergkamp nur angedeutet. Einer darf in dem Zusammenhang nicht fehlen, Wengers größter Ziehsohn Thierry Henry. In den acht Jahren von 1999 bis 2007 wurde unter der Ägide des Weltmeisters von 1998 der vielleicht schönste Fußball gespielt, den Highbury in seiner langen Geschichte gesehen hat.

Viele Titel ohne den ganz großen Wurf

Arsenals Titelliste in den mehr als 20 Jahren unter der Regentschaft des Franzosen liest sich mehr als üppig. Drei englische Meisterschaften sowie sieben FA-Titel sprechen für sich. Die alljährliche Teilnahme an der Champions League geriet zur Selbstverständlichkeit. Und doch ist der größte europäische Titel dem Welttrainer Arsène Wenger nicht vergönnt gewesen. Im Mai 2006 war das Gunners-Team dem Königstitel so nahe wie nie. Aber im Finale von St. Denis reduzierte  der Fußballgott Wengers Ensemble durch die rote Karte für Jens Lehmann bereits nach 16 Minuten. Am Ende saß der FC Barcelona durch ein 2:1 nach 0:1-Rückstand durch Henry auf Europas Fußballthron.

Sahnehäubchen als später Balsam?

Arsène Wengers Lack hat in den letzten Jahren nach dem Umzug ins neue Emirates-Stadion, an dessen Zustandekommen er selbst entscheidend mitgewirkt hat, den einen oder anderen Kratzer abbekommen. Der große Trainermagier war bei den Fans im Norden der Hauptstadt nicht mehr unumstritten, wenn Arsenal sich auch weiter permanent mit den anderen Großen in der Champions League maß. Wenn aber Titel ausbleiben, werden auch Titelverwöhnte unruhig. In dieser Saison werden sich die Rot-Weißen erstmals nicht über einen Rang in der Premier League für die Königsklasse qualifizieren können. Unter den Big Six Man City, Man United, Liverpool, Tottenham und Chelsea bilden die Wenger-Boys den Schwanz. Über den Lieferanteneingang allerdings könnte das Team noch in den Ballsaal der europäischen Elite treten. Am morgigen Donnerstag könnte Arsenal im ersten Halbfinale im heimischen Emirates gegen Atlético Madrid den Fuß in die Tür setzen. Vorausgesetzt ein erfolgreicher Auftritt beim Rückspiel in der spanischen Hauptstadt könnte das Sahnehäubchen am 16. Mai im Stade de Lumières von Lyon folgen. Im Finale an der Rhone müsste allerdings dann noch die Hürde Olympique Marseille oder Red Bull Salzburg übersprungen werden. Es wäre mehr als ein Trostpreis – Wengers erster europäischer Titel. Dem Mann aus Straßburg wäre es zu gönnen. Noch sind wir im Konjunktiv.