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Video-Beweis: Irren bleibt menschlich und Fußball ein Schauspiel

Jörg Andersson

Sein Einsatz galt als Meilenstein in Sachen Gerechtigkeit im Fußball: Der Video Assistant Referee (VAR) hätte – um mal drei Klassiker aus alter Vergangenheit aufzuzählen – Maradonas perfides WM-Tor mit der „Hand Gottes“ aufgedeckt; Möllers dreiste Schwalbe auf dem Weg zur BVB-Meisterschaft als Schurkenstück entlarvt und die klare Fehlentscheidungen des Schiedsrichters korrigiert, dessen ausbleibender Elfmeter-Pfiff in Rostock den Eintracht-Fans den Titeltraum raubte.

Bundesliga-Premiere war im August 2017 in der Partie Bayern München gegen Bayer Leverkusen. Just in der gleichen Paarung folgte jetzt ein eindeutiger Beleg seiner Daseinsberechtigung. „Der Video-Assistent war mein Lebensretter“, gestand  der Schiedsrichter zerknirscht ein, nachdem er binnen zwanzig Minuten zweimal komplett danebengelegen hatte. Tobias Stieler hatte dem doppelt elfmeterreif gefoulten Stürmer Amine Adli sogar jeweils die gelbe Karte gezeigt, weil er ihn als vorsätzlichen Schauspieler wähnte. Krasse Fehleinschätzungen, die reflexartig wieder die Debatte um die Qualität der deutschen Schiedsrichter entfachte. Deren schwache Leistungen seien selbst der UEFA aufgefallen, ließ Ex-Bundesliga-Referee Manuel Gräfe verlauten. Jener Gräfe, der sich durch seinem erzwungenen Bundesliga-Abschied nach Vollendung des 47. Lebensjahres altersdiskriminiert sieht und seither kein gutes Haar an der Führungsgilde um Schiedsrichter-Chef Lutz Michael Fröhlich lässt.  

Ohne die Schelte und die Altersfrage zu beurteilen: Schiedsrichternachwuchs ist knapp  und die Autorität der Unparteiischen zudem ins Wanken geraten. Auch durch die zusätzliche Entscheidungsebene VAR, die mitunter schwer  mit dem temporeichen Fußball zu synchronisieren scheint und durch strittige Regelauslegungen, die viel Interpretationsspielraum eröffnen. Zeitlupenstudien konterkarieren das dynamische Geschehen auf dem Platz und die kontroverse Auslegung eines strafbaren Handspiels liefert mit regemäßig Diskussionsstoff für Talkshows und Experten-Stammtische.

Ursprünglich sollte der Video-Beweis nur bei krassen Fehlentscheidungen korrigierend auf den Plan treten. Doch was den weiteren Spielverlauf massiv beeinflussen könnte, entscheidet jeder VAR individuell und anders. Entscheidungen, ob etwa ein im Abseits befindlicher Spieler aktiv ins Geschehen eingreift oder die Sicht versperrt, fallen kontrovers aus. Die Beurteilung, wann eine neue Spielsituation vorliegt, vermag das Vorstellungsvermögen und Fachverständnis vieler Fußballbeobachter zu sprengen. Und quälend lange Entscheidungsfindungen, die Emotionen um einen womöglich entscheidenden Treffer nachhaltig ersticken, kratzen am ureigenen Wesen des Fußballs. Wie befremdlich wirkte jene Szene vor fünf Jahren in Mainz, als sieben Minuten nach dem Halbzeitpfiff alle Akteure zurück auf den Rasen geordert wurden, um einen nachträglich verhängten  Handelfmeter ausführen zu lassen.

Verunsicherte Unparteiische verlieren oder vernachlässigen das eigene Beurteilungsvermögen und vertrauen auf die Intervention aus dem Keller. Ob ein strafbares Handspiel vorliegt oder ein bloßer Körperkontakt schon elfmeterreif ist ? Wird der Schiedsrichter zum Bildschirm gelotst, scheint die Entscheidungen vielfach präjudiziert. Referees werden  zunehmend zu Erfüllungsgehilfen des Video-Assistenten. 

Während sich viele Experten und vermeintlich Video-Beweis-Opfer beschweren, der Kölner Keller schalte sich zu oft in das Geschehen ein, kündigt Schiedsrichter-Chef Fröhlich eher noch mehr Eingriffe an. Für Videobeweis-Projektleiter Jochen Drees ist der VAR  ein „Erfolgsmodell, das den Fußball gerechter macht.“ Begründung: pro Saison würden über 100 Fehlentscheidungen korrigiert. Es gebe keine Abseitstore mehr,  keine Tätlichkeiten, keine Schwalben.

Nun ist die Strafraum-Schwalbe nicht vom Aussterben bedroht, wie erst jüngst Gladbachs Stürmer Markus Thuram direkt vor den Augen des Schiedsrichters bewies – und um ein Haar dafür belohnt worden wäre. Und tatsächlich liegt ein Kernproblem zur Akzeptanz von Schiedsrichter- und VAR-Entscheidungen im Verhalten der Akteure begründet: Auf dem Rasen tummeln sich professionelle Simulanten und Schauspieler. Nahezu jede Entscheidung der Unparteiischen wird gestenreich in Frage gestellt. "Wahrscheinlich gibt es kaum eine andere Sportart, bei der die Spieler mit so viel Theatralik und böser Absicht versuchen, den Schiedsrichter in die Irre zu führen“, notiert Marco Bode, schon als Profi ein seltener Fairness-Botschafter. Während seiner aktiven Zeit kassierte er in 379 Bundesligaspielen gerade mal zehn gelbe Karten.

Was macht das Schiedsrichterwesen im Fußball so exklusiv? Ein anderer Umgang mit Entscheidungen der Referees ist zum Beispiel im Handball zu beobachten. Im US-Basketball ist das Vortäuschen von Regelverstößen durch Spieler nicht nur verpönt, sondern kann unter dem Begriff „Flopping“ sogar als Betrugsversuch verfolgt und sanktioniert werden. Trotz der Möglichkeit, Videoaufzeichnungen nachträglich zu studieren, fällt der Bildbeweis in der Praxis allerdings schwer. Auch mit Hilfe von  Studien zu Körperkräften und typischen Bewegungsmustern lässt sich ein vorsätzlicher Täuschungsbeweis mit absoluter Gewissheit nur selten nachweisen.

Und so gleichen sich die Szenen dann doch oft  - wie im Fußball.  Zum Ende des Spiels häufen sich vermeintlich schmerzende Blessuren, die im Endeffekt den Spielfluss  unterbinden und  Zeit von der Uhr nehmen.

Fazit: Der Fußball bleibt ein Drama, und - das sei zum Trost von Schiedsrichtern und VAR ergänzt - vielfach auch, weil hochbezahlte Profis am Ball vorbeisäbeln oder das leere Tor verfehlen. Dass der Videobeweis entscheidend zur Gerechtigkeit im Fußball beiträgt, bleibt eine schöne Illusion. Denn die Fehlerquelle ist der Mensch, der diese Technik bedient. Vielleicht appellieren wir deshalb auch weiter tapfer an Fair-Play und den gesunden Sportsgeist.