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Wenn Helden Durchfall haben

Knappschaftsexperte Dr. Friedrich Hölzl erläutert, was Angst, Stress und Kampfmodus verbindet

Dr. med. Friedrich Hölzl, Chefarzt der Zentralen Notaufnahme und Aufnahmestation der Rhein-Maas Klinikum GmbH in Würselen.

Welcher Junge träumt nicht davon, später einmal Fußballprofi zu werden. Schon die kleinsten Kicker werden mit großer Erwartungshaltung durch Eltern und Trainer über die Fußballäcker der Nation gescheucht. Wer halbwegs begabt ist, gerät früh in den Genuss ausgiebiger, täglicher Förderung. Natürlich ist das wichtig für die fußballerische Entwicklung unserer kleinen Talente von Morgen und man sollte meinen, dass die jungen Fußballer neben körperlichen, technischen und taktischen Fortschritten sich auch psychisch entwickeln und lernen mit Leistungsdruck umzugehen. Schließlich sind Idole stark, belastbar und gesund und jegliche Schwäche ist ein Tabu.

Doch offenbar gelingt das nicht immer. Nach dem tragischen Tod von Robert Enke, der die Fußballwelt erschütterte und zugleich auch wachrüttelte, kam ein neues Verständnis von gefeierten Leistungssportlern auf. Doch diese neue Wahrnehmung legte sich alsbald wieder bis nun Weltmeister Per Mertesacker sehr offen über seine Ängste vor jedem Anpfiff berichtete. Sollten etwa Profifußballer mit Leistungsdruck nicht anderes umgehen als Du und ich vor einem Referat, Prüfungen oder einem Musikschulvorspiel?

Mertesacker beschreibt öffentlich die unkontrollierbaren Reaktionen seines Körpers unter dem enormen Leistungdruck vor jedem Spiel mit Durchfall und Erbrechen.

Alle Energiereserven werden konzentriert

Doch was passiert da eigentlich im Körper?  Die Steuerung des Magen-Darm-Traktes erfolgt über ein sehr ausgeprägtes Nervengeflecht und arbeitet unabhängig vom Gehirn. Dieses sogenannte  enterische Nervensystem kann jedoch durch das vegetative Nervensystem beeinflusst werden - und dieses unterliegt durchaus der Steuerung des Gehirns, vermittelt durch Botenstoffe wie Stresshormone.

Der Körper wird beispielsweise in einen Flucht- oder Kampfmodus versetzt. Herzschlag und Atmung beschleunigen sich, alle Energiereserven werden Herz, Lungen und Muskulatur zur Verfügung gestellt - zum Nachteil der Verdauungsorgane, die für den optimalen Betrieb gewaltig Energie verbrauchen. Diese versuchen dann, die Nahrungsreste schnellstens wieder loszuwerden. Das gelingt nun zwar wenig elegant, dafür aber in Rekordzeit mittels Durchfall und Erbrechen. Natürlich kommen auch leichtere Formen mit Bauchgrummeln und Übelkeit vor.

Auch Messi kennt den „Steinzeitreflex“

Diese Regelmechanismen haben so manchem Neandertaler das Leben gerettet, auf dem Fußballplatz wirken sie jedoch ein wenig ungewöhnlich und unappetitlich. Dabei befindet sich Mertesacker in allerbester Gesellschaft. Auch Lionel Messi überkommt immer mal wieder auf dem Spielfeld ein Brechreiz. Zwar sei bisher keine offizielle Ursache gefunden worden und vielleicht liege es ja an der Ernährung, aber könnte nicht auch hier einfach nur unser Steinzeitreflex entschieden haben, dass es gerade angebracht sei, aus dem Ruhemodus zu kommen. Dem dauerhaften Leistungsdruck sind Profifußballer nicht mehr und nicht weniger gewachsen, als normale Menschen.

Wer kennt nicht das komische Gefühl im Bauch vor wichtigen Prüfungen, schweren Schicksalsschlägen in der Familie, Reisefieber und anderen Triggern? Jeder reagiert anders, aber jeder reagiert auf seine Weise auf emotionalen Stress und Druck.

Prinzipiell ist es schwierig, Vorgänge im Körper zu beeinflussen, die automatisiert ablaufen und evolutionsmäßig auch völlig berechtigt sind. Öfter kleinere fett- und ballaststoffarme Mahlzeiten können lindern, ebenso wie manchmal auch Medikamente, viele gewöhnen sich in gewisser Weise an wiederkehrende Stresssituationen. Das Tabuisieren ist jedoch ein ganz wesentlicher Verschlimmerungsfaktor. Zu wissen, dass die Reaktionen des eigenen Körpers für Außenstehende unangemessen erscheinen und die Angst mit der eigenen Schwäche aufzufallen, führt oftmals zu einer deutlichen Verschlechterung und noch stärkerer Reaktion.

Mertesacker weist darauf hin, dass im Profigeschäft viele Kicker ähnlich reagieren wie er, aber keiner spricht darüber. Doch mit Robert Bauer von Werder Bremen meldet sich nun ein weiterer Profi zu Wort und sagt: "Der Druck kann dich kaputtmachen". Er meint hier vor allem den Druck, den Medien und Fans aufbauen.

Matthäus‘ Gedächtnislücke

Mertesackers ehrliche Worte über seine etwas andere Wahrnehmung des Sommermärchens 2006 kommentierte Leitwolf und Rekordexperte Lothar Matthäus lapidar mit der Bemerkung, dass es keine Belastung sein dürfe, eine WM im eigenen Land zu spielen.

Noch 2013 schrieb er mal irgendwo, dass es in seiner Karriere durchaus Momente gegeben habe, in denen er fast am Erwartungsdruck erstickt wäre. Gehörte das Elfmeterschießen im DFB-Pokal-Finale in Frankfurt 1984 auch dazu, als er für Borussia gegen Bayern seinen Elfer verschoss?

Die neue Offenheit unserer Fußballstars ist ein wichtiger Schritt in eine Zukunft, in der unsere Helden auch einmal urmenschliche Schwächen zeigen dürfen und es ist mit Sicherheit im Sinne eines erfolgreichen und attraktiven Profisports, wenn die Sportler nicht nur physisch, sondern zumindest auch ein bisschen psychologisch begleitet und auf ein Leben unter höchstem Dauerstress und Druck vorbereitet werden.

Und auch wir Fans sollten lernen, dass unsere Idole auch nur Menschen mit Stärken, Schwächen und Gefühlen sind.