Anzeige

Der deutsche Fußball braucht einen grundlegenden Neuanfang

Georg "Schorsch" Horz. (Foto:privat)

Man kann bei einer Europameisterschaft, die leistungsmäßig über einer Weltmeisterschaft steht, gegen England ausscheiden. Noch dazu, wenn man im Fußballtempel Wembley-Stadion gegen das Mutterland des Fußballs antreten muss. Noch dazu, wenn in Zeiten von Corona fast nur englische Fans im Stadion sind. Noch dazu, wo die Deutsche Mannschaft wegen Corona von Deutschland anreisen musste, frühzeitig kein Quartier in England machen und im Stadion trainieren konnte. Dafür durften wir bei dieser seltsamen EM 3 Spiele zu Hause in München machen, unsere Mannschaft konnte von Herzogenaurach fast zu Fuß ins Stadion laufen.

Was mich wundert: Insbesondere in den sozialen Medien sind ja viele Experten unterwegs und übertreffen sich mit ihren Weisheiten bei Vorwürfen gegen Löw, gegen vereinzelte Spieler und Gott und die Welt. Noch keiner / keine hat thematisiert, dass Deutschland durch eine gravierende Fehlentscheidung des Schiedsrichters benachteiligt wurde. Der Tritt des Engländers mit gestrecktem Bein auf das Schienbein oberhalb des Knöchels von Toni Kroos noch in der 1. Halbzeit war ohne WENN und ABER eine glasklare rote Karte, gelb war die falsche Entscheidung.


Meine Spielanalyse ist ganz einfach.

Das Spiel war ausgeglichen, jede Mannschaft hatte 3 - 4 spielentscheidende Szenen. Die Engländer haben 2 davon genutzt. Werner, Havertz und Müller haben die deutschen Chancen alle versemmelt. Ein deutscher Sieg war durchaus möglich. Vom Einsatz her kann man dem Team keinen Vorwurf machen.


Auf einem anderen Blatt steht, dass ich die Mannschaftsaufstellung nicht verstanden habe.

Einige Spieler spielten - wie durchgehend in der Löw-Ära - nicht auf der Position, wo sie in ihren Vereinsmannschaften bärenstarke Leistungen brachten. Mit Volland - Max Kruse wurde ja erst gar nicht nominiert - hätten wir einen echten Mittelstürmer gehabt. Da wurden mit Gnabry, Havertz und Müller mit falschen Neunern (oder wie der ganze Schwachsinn heißt) faule und wenig erfolgversprechende Kommpromisse eingegangen. Auch mit den Auswechslungen habe ich so meine Probleme. Spätestens nach dem 1 - 0 hätte ich Volland und Musiala gebracht. Emre Can - Abwehr- oder defensiver Mittelfelspieler - wurde kurz vor Schluss und das vielversprechende Münchner Talent in der Nachspielzeit eingewechselt.

Meine Erwartungen waren nach der Weltmeisterschaft 2018 und der Zeit danach ohnehin nicht groß. Alles, was den deutschen Fußball mal ausgezeichnet hat, ich spreche von gut ausgebildeten Fußballern, von Einsatz, von leidenschaftlichem Kampf, von mannschaftlicher Geschlossenheit, taktischer Disziplin und von realistischer Selbsteinschätzung, wurde nach dem WM-Triumph 2014, der exakt mit den vorgenannten Eigenschaften erzielt wurde, über Bord geworfen. Wir wollten was Besseres sein. Ballbesitzfußball ala Spanien und Frankreich sollte gespielt werden. Das wir das nicht können, hat uns Spanien beim 6 - 0 deutlich gezeigt. Noch entscheidet nicht der größere Ballbesitz über den Sieg, es muss nach wie vor ein Tor mehr als der Gegner geschossen werden.


Diese EM macht mir Spaß.

Die sogenannten Underdogs kämpfen bis zum Umfallen und streben nach Ballgewinn sofort den direkten Weg nach vorne in den gegnerischen Strafraum an, um ein Tor zu erzielen. Die deutsche Mannschaft brauchte nach Ballgewinn eine kleine Ewigkeit bis vor Box des Gegners. Um diese wurde dann drumherum, nur nicht hinein, gespielt. Dann wäre ja noch der Distanzschuss als taktisches Mittel gewesen. Auch Fehlanzeige, kombinieren bis ins gegnerische Tor war die Löw'che Spielphilosophie.

Ich will unserer Mannschaft nicht unterstellen, nicht gekämpft zu haben. Wer genau hingeschaut hat, hat einen deutlichen Unterschied zwischen der U 21 von Stefan Kuntz, die kürzlich die EM gewonnen hat, und der A-Nationalmannschaft festgestellt. Kuntz steht für Leidenschaft, Löw für normalen Einsatz, gerade so viel, dass man nicht fehlenden Kampfgeist unterstellen könnte.

 

Die DFB-Blase um Löw und Bierhoff und andere (gescheiterte) DFB-Granden bezeichne ich als betriebsblind.

Im Glauben, unfehlbar zu sein, beschäftigte man sich nur mit sich selbst. Ein Blick in die deutsche Fußballhistorie hätte Allen gut getan. Fußballtrainer ist ein Verschleißjob. Sepp Herberger war vor meiner Zeit. Weltmeister 1954 / Schweiz und Halbfinale 1958 /Schweden, er verpasste den rechtzeitigen Ausstieg, in Chile ist er grandios gescheitert und hat sich den angemessenen Abschied selbst verspielt. Ihm folgte Helmut Schön, dessen Laufbahn ich - jetzt alt genug - verfolgen konnte. Vizeweltmeister in England 1966, geiler Dritter bei der WM 1970 in Mexiko, Europameister 1972 und Weltmeister 1974. Auch der Wiesbadener verpasste den rechtzeitigen Ausstieg, den er nach dem blamablen Ausscheiden (gegen Österreich) bei der 78-er WM in Argentinien vollzog. Der letzte Eindruck blieb haften, dem Mann mit der Mütze wurde der grandiose Abgang ebenfalls verwehrt. Alles richtig gemacht hat unser Kaiser. Franz Beckenbauer wurde 1986, wieder Mexiko, Vizeweltmeister und holte 1990 in Italien den Titel. Und hörte auf dem Höhepunkt auf und machte sich auch als Trainer unsterblich.

Mit einem Blick in die Vergangenheit, auf seine Vorgänger Herberger und Schön, hätte sich Joachim Löw Einiges ersparen können. Meine Hoffnung ist immer, dass Menschen selbst erkennen, wenn etwas in die falsche Richtung läuft und wann es Zeit ist auszusteigen. Diese Gabe besitzen viele nicht. Denen wünsche ich im Umfeld gute Freunde, die ihn oder sie darauf hinweisen, es läuft was falsch. Aber, mit anderen um ihn herum, vornehmlich Herrn Bierhoff, lebte Herr Löw in einer Blase.

Jogi Löw soll ja im Umgang mit anderen Menschen sehr fein gewesen sein. Das mag für die gelten, denen er gut gesonnen war.
Da war doch noch was: Die Aussortierungen von Torwarttrainer Sepp Maier, von Michael Ballack vor und nach der WM 2010 in Südafrika und die von Mats Hummels, Jerome Boateng und Thomas Müller nach der WM 2018 hatte keinen Stil und würdigte nicht die Verdienste, die sich die Akteure um den deutschen Fußball erworben hatten. Viele Fußballfans machen jetzt Thomas Müller wegen der vergebenen Ausgleichschance gegen England zum Sündenbock. Ich hatte meinem Lieblingsspieler dringend von einem Comeback abgeraten, er können nur verlieren. Leider habe ich Recht behalten. Mach Schluss, Thomas, gönn' Dir noch einige schöne Jahre bei Bayern und steh' einem Neuaufbau der Nationalmannschaft nicht im Wege.


In die Ära Löw / Bierhoff fällt auch der Gigantismus.

Bei der WM in Brasilien wurde für die "Mannschaft" ein eigenes Hotel auf einer Insel gebaut, gegenüber dem Gastgeber empfand ich das als sehr anmaßend. Jetzt bei der EM wurde den Spielern wieder eine Wohlfühloase mit allen Annehmlichkeiten zur Verfügung gestellt. Es wäre, insbesondere wegen der besonderen Situation mit Corona an der Zeit, wieder mal etwas Bescheidenheit an den Tag zu legen. Zwischen Sportschule und Wohlfühloase Herzogenaurach gibt es ein Mittelding, was auch einer Nationalmannschaft gerecht würde.

 

Natürlich verliere ich auch noch ein paar Worte über die Regenbogernbinde für Vielfalt und Toleranz unseres Kapitäns Manuel Neuer und auch das Hinknien als Zeichen gegen Rassismus. Von mir aus kann man mich auch in die rechte Ecke stellen.

Mein ausdrücklicher Wunsch ist, dass sich viel mehr Menschen gegen Unrecht auf unserer Welt äußern würden. Die Stimme des Privatmannes Manuel Neuer hätte das gleiche Gewicht wie das des Kapitäns der deutschen Nationalmannschaft.Ich erinnere daran, dass die Nationalspieler das Privileg haben, einen 6 bis 7 Millionen Mitglieder starken Verband auf dem Rasen zu vertreten. Die Mitglieder sollte man auf der Reise mitnehmen, was ja auf allen Ebenen nie geschieht. Ich habe kein Problem damit, wenn man sich für Toleranz und Vielfalt einsetzt. Warum, Manuel Neuer, hast Du die regenbogenfarbene Kapitänsbinde denn nicht bei der WM 2018 in Russland getragen, dort gibt es auch erhebliche Probleme mit Toleranz und Vielfalt, und auch mit der Meinungsfreiheit. Für mich ist der DFB meine riesengroße Familie. Bei der WM 2018 machten die Schweiz und Serbien ihr Fußballspiel zu einem Krieg in kurzen Hosen auf einem Fußballplatz. Da war - wegen der Herkunft zahlreicher Schweizer Spieler - viel Rassismus im Spiel. Leidtragener war der deutsche Schiedsrichter Dr. Felix Brych, ein Mitglied unserer DFB-Familie. Felix hat an diesem Tag keine gute Leistung geboten, dies war bei dem Hass, mit dem beide Mannschaften zu Werke gingen, auch nicht möglich. Der Forderung des serbischen Trainers Mladen Krstajic, Dr. Felix Brych vor das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu stellen. begegneten der DFB und "die Mannschaft" mit Schweigen. Und die FIFA, die ja so oft das Wort Fairplay in den Mund nimmt, schickte unseren deutschen Spitzenschiedsrichter nach Hause und gestattete ihm keinen weiteren Einsatz. Es freut mich, dass mein Kollege Felix bei dieser EM 2020 insgesamt 5 Spiele, heute den Kracher Italien gegen Spanien, pfeifen darf. Manuel Neuer und die deutsche Nationalmannschaft haben Zeichen gesetzt. Sofern wir uns für die WM 2022 in Katar qualifizieren, kommen die Akteure jetzt nicht mehr umhin, den Gastgebern deutlich ihren menschenverachtenden (bis hin zu vielen Toten) Umgang mit den Billiglöhnern beim Errichten der Stadien vor Augen zu führen. Noch besser wäre, diesem Event mit Boykott zu begegnen. Ich zähle auf Dich, Manu, bleibe Deinem eingeschlagenen Weg treu .

       

Verlierer der EM war auch die Fernsehberichterstattung.

Auf einen Shitstorm habe ich keinen Bock, ich äußere mich nicht zu Claudia Neumann und ihrer Co-Kommentatorin und Frau Wellmer. Schlechte Leistung bzw. Kompetenz hat nichts mit Geschlecht zu tun. Es gab einen noch Schlimmeren, der mir Ohrensausen vermittelte. Peter Hyballa verwissenschaftlichte den Fußball, der eigentlich ein einfaches Spiel ist. Ich war mal lizenzierter (B-Lizenz) Fußballtrainer. Hätte mir mein damaliger Ausbilder Bernd Stöber, Verbandssportlehrer beim Hessischen Fußballverband, solche Lerninhalte vermittelt, hätte ich die Sportschule in Grünberg nach nur einem Tag verlassen. Die Mehrzahl der Lehrgangsteilnhemer, auch ich, wären geistig überfordert gewesen.

 

Über die UEFA schreibe ich nichts.

 

Mein Fazit - und dies nicht erst seit dieser EM, die für mich trotz Allem mit einem erträglichen deutschen Ergebnis geendet hat - fällt folgendermaßen aus: der DFB braucht auf allen Ebenen einen grundlegenden Neuanfang. Herr Löw, ich danke Ihnen für die geleistete Arbeit. Ich bedanke mich bei Ihnen auch dafür, dass Ihnen endlich die Erleuchtung gekommen ist - Ihre Zeit ist vorbei. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Ihren Einfluss auf Oliver Bierhoff geltend machen würden, nehmen Sie ihn mit und genießen Sie gemeinsam Ihren Lebensabend. Herr Keller ist auch zurückgetreten worden, hier bietet sich auch die Möglichkeit eines Neuanfanges. Der Neuanfang sollte nicht unbedingt wieder aus dem Profilager kommen, ich hätte nichts gegen Frau Groth von TUSA Düsseldorf. Auch Herr Seifert von der DFL tritt zurück. Von seinem Nachfolger erhoffe ich mir einen Weitblick für das große Ganze statt immer nur auch noch den letzten Cent für den Profifußball zu holen. Der bzw. die Mittelstürmer / der Strafraumspieler, die uns bei dieser EM für einen größeren Erfolg gefehlt haben, springen mit Sicherheit auf irgendwelchen Sportplätzen kleiner Amateurvereine herum, sie müssen nur entdeckt und gefördert werden. Wenn man den Fußball an der Basis zerstört, wird es mit einem deutschen Comeback in der Weltspitze des Fußballs nichts mehr werden.

 

Liebe Grüße von Schorsch Horz

 

PS: Meine Hoffnung für den Europameister 2020 ist Dänemark.