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Hosianna und Kreuzige ihn

Wie die veröffentlichte Meinung das Fähnchen nach dem Wind hängt

flw24 Kolumnist Claus Coester.

Jogi Löw hat in den letzten Monaten sicher eine Reihe von Wechselbädern der Gefühle durchgemacht. Seine äußerliche Erscheinung – das Haar tipptopp, schick gestylt, tadellose Figur. Alles stimmt wie immer. Jedes Härchen sitzt. Auch das Gesicht. Meist schaut er betrübt. Das hat aber keine Bewandtnis. Joachim Löw ist der Typ mit fester Mimik. Der Typ, der zum Lachen in den Keller geht. Das würden böse Lästerer sagen.  Aber der Badener lässt nicht in sich hineinschauen.

Wieder heitere Aussichten

Seit dem Sonntag von Amsterdam müsste das Stimmungsbarometer wieder hoch gegangen sein. Aber wie gesagt. Jogi hat nur ein Gesicht. Und so lassen sich seine Emotionen schwerlich ablesen. Selbst im höchsten Triumph von Rio hat er genauso dreingeschaut. Jogi ist halt ein Künstler. Kein Verstellungskünstler. Seine Natur ist so.

Medien als Urteilsvollstrecker

Was haben die Medien nicht seit dem Desaster in Russland  und den Nachwehen in der UEFA Nations League auf den Schlanken eingedroschen. In Wolfsburg war dann das von den Altlasten befreite Team weder Fisch noch Fleisch. Man wusste nicht so recht.  Niemand weiß, in welcher seelischen Verfassung der Bundestrainer mit seinen millionenschweren Jungs in die Grachten-Stadt gereist ist. Noch am Sonntagmorgen bereitete so mancher in Helmers Schwatzbude die Exekution für den Abend vor, falls das in der niederländischen Hauptstadt schief gehen sollte.

Wie aus dem Jungbrunnen

Und dann geschah das, was die Fußballnation wieder schwärmen lässt. Die einen wussten es. Die anderen hofften es. Andere warteten vielleicht auf einen weiteren Lapsus. Aber alles kam anders. In der Amsterdam-Arena frischer Fußball. Von beiden Teams. Also auf deutscher Seite doch keine Kicker mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum. Gut, Jogi hatte das nach seiner Einschätzung alte Eisen zum Schrottplatz gebracht. Jetzt preist die Presse „Löws Himmelsstürmer“ in den höchsten Tönen.  In der Tat: Das war schon Fußball mit Explosionskraft, den vor allem Gnabry und Sane da nach vorne demonstrierten. Aber von deren Potential wussten wir. Da wird Bondscoach Ronald Koemann sich die Augen gerieben haben.

Ein schmaler Grat und Neuers Renaissance

Aber wir wissen: Selbst nach dem scheinbar beruhigenden 2:0 war das Haus noch längst nicht auf festem Grund gebaut. Denn der Anschlusstreffer des Oranje-Teams läutete eine niederländische Generaloffensive ein. Welches Feuerwerk da Memphis Depay und seine Kameraden entfachten! Da konnte einem schon Angst und Bange werden um Rüdiger, Süle und Co. Sagen wir es offen: Da war viel Dusel im Spiel - und dazu ein glänzend aufgelegter Manuel Neuer, der die Kiste dicht machte.

Exekution abgeblasen

Auch Neuer wollten die Pressefritzen schon seit Wochen zum Opferaltar führen. Aber der Münchener Hüne ist den Metzgern noch einmal von der Schlachtbank gesprungen und hat ihnen eine Nase gedreht. Das Glück hilft dem Tüchtigen. Und an diesem Abend war der Kapitän der Nationalmannschaft besonders tüchtig. Wie in seinen besten Zeiten. Er sammelte durch tolle Reflexe wichtige Pluspunkte und hat allen Kritikern gezeigt: „Das war’s noch nicht. Ich habe kein Verfallsdatum.“ Dass der Kapitän mit Marc-Andre ter Stegen einen herausragenden Konkurrenten von Weltklasse im Nacken hat, weiß der große Blonde genauso wie die unangefochtene Nummer eins in Nou Camp. Aber dessen Los ist es zu warten. Im Tor kann nur einer stehen. Und ter Stegen weiß, dass man einen Brocken wie Neuer nicht so leicht wegschieben kann. Auf der anderen Seite: Freuen wir uns doch, dass der Fußballgott die deutsche Fußballnation mehrfach mit einem Zerberus beschenkt hat. Nicht erst in dieser Zeit. Das hat schon Tradition, um die uns die anderen beneiden.