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In Anfield boxte der Papst

Liverpool erlebte eine rauschende Ballnacht

flw24-Kolumnist Claus Coester. (Foto: flw24)

Die berühmte Anfield Road vom FC Liverpool. (Foto: FC Liverpool)

Der neue (Thomas Tuchel) und der alte (Jürgen Klopp) BVB-Trainer im Hinspiel an der Seitenlinie im Signal-Iduna-Park. (Foto: Thorsten Wagner)

Sein Herz schlägt jetzt für den Traditionsverein aus dem Norden Englands. (Foto: Thorsten Wagner)

„Hier boxt der Papst“, fuhr es Sky-Reporter Wolf-Christoph Fuss heraus. Liverpool hatte im Europa-League-Match gegen Dortmund soeben zum 3:3 ausgeglichen. Die Stadt der Beatles erlebte am vergangenen Donnerstagabend eine weitere europäische magische Nacht. Das berühmte Stadion an der Anfield Road scheint für besondere Momente prädestiniert. Es gibt viele Namen von Sportstätten, bei denen Fußballfreunde ins Schwärmen geraten: Old Trafford, Santiago Bernabeu, Camp Nou, San Siro. Und doch haftet dem Stadion an der Mersey-Side ein einzigartiger Zauber an, der sich vielleicht aus der besonderen Verschmelzung zwischen Spielern, ihrem Publikum und der Historie der Reds erklären lässt.

KOP-Sache

Der legendäre KOP, die ursprüngliche Stehplatztribüne, die seit der Hillsborough-Katastrophe wie in allen Fußballstadien Englands in eine Sitztribüne umgewandelt wurde, gehört ebenfalls zum Phänomen Anfield. The KOP fasst vielleicht die Hälfte der imposanten „gelben Wand“ im Dortmunder Signal-Iduna-Park. Aber er ist die Keimzelle der schönsten aller Fußballhymnen. „You‘ll never walk alone“ ziert ein schmiedeeisernes Tor der Arena und auf der einstigen Stehtribüne haben die Liverpool-Supporter vor mehr als einem halben Jahrhundert den Song in den Adelstand erhoben und um die Welt geschickt. Heute vereint er bei aller Rivalität die Fans in Liverpool, Dortmund, Mainz oder anderswo.

Mythos Bill Shankly

Der Manager Bill Shankly war es, der Ende der 1950er und in der ersten Hälfte der 1960er Jahre den FC Liverpool auf den europäischen Schild hob. Sein Nachfolger Bob Paisley erntete für ein Jahrzehnt reichlich europäische Früchte. Von Shankly, für den das Team alles war, stammt das Zitat: „Es gibt Leute, die denken, Fußball sei eine Frage von Leben und Tod. Ich kann Ihnen versichern, dass es noch sehr viel ernster ist.“ Der Verein hat dem 1981 verstorbenen Shankly vor THE KOP eine lebensgroße Bronzestatue aufgestellt. Sie trägt die Inschrift: „Er machte die Menschen glücklich.“ Die Asche des ruhmreichen Trainers wurde auf dem Spielfeld von Anfield zerstreut.

Ein Deutscher in Anfield

Seit einem halben Jahr führt mit Jürgen Klopp nun erstmals ein deutscher Trainer die Geschicke des ruhmreichen Klubs. Nicht die sportliche Qualifikation, sondern das Losglück ließ nun Liverpool und Dortmund zweimal aufeinandertreffen. Eine großartigere Konstellation hätte Fortuna nicht schaffen können. Klopp, der Borussia Dortmund im vergangenen halben Jahrzehnt zu einem europäischen Spitzenensemble mit begeisterndem Fußball geformt hatte, traf mit seinem neuen englischen Klub auf sein Erfolgsteam aus dem Revier. Dieses spielt weiterhin einen leicht abgewandelten, aber gleichfalls brillanten und faszinierenden Fußball. Es wird von einem im weitesten Sinne Mainzer Zögling des neuen Magiers in Liverpool gecoacht. In Klopp und Tuchel treffen allerdings zwei grundverschiedene Charaktere aufeinander: Hier pure Emotion, dort kühle Ratio. 

Emotion vor Ratio und Watzkes Spruch vom Druck

Am außergewöhnlichen Abend von Liverpool triumphierte das Prinzip „Emotion“ über das Prinzip „Ratio“. Manche haben neuerdings die Formel „Mentalität schlägt Qualität“ geprägt. Nach dem hauchdünnen 1:1 im Hinspiel stand die Angelegenheit in der Europa League für das Rückspiel völlig offen. Wenn Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim „Aki“ Watzke vom größeren Druck sprach, der auf den Briten laste („Wir haben die Qualifikation für die Champion League bereits“), so erinnerte das mehr an den ängstlichen Jungen, der in den dunklen Keller geht und pfeift. Nun schien aber das Fußballglück der Borussia vom Borsigplatz bis zur Halbzeitpause mehr als hold. Was sollte bei einem 2:0 noch schief gehen? Die Reds hätten dreimal treffen müssen. Nach dem erstmaligen Anschlusstreffer war die Antwort des Tuchel-Teams auch analog. Reus stellte den alten Abstand nach einer famosen Kombination wieder her.

Coutinhos Kunstschuss leitet die Wende ein

Dann folgte jedoch reichlich lange vor Spielende der Geniestreich des Brasilianers Coutinho mit dem erneuten Anschlusstreffer. Dieser verlieh Liverpool neue Kräfte. Am Ende stand der Sieg einer unbändigen Willenskraft über ein gelähmtes Gästeteam. Nichts dokumentiert diesen eisernen Willen mehr als die Erscheinung der beiden Torschützen zum Ausgleich und Siegtreffer. Es waren jetzt nicht die spielerischen Typen, die Liverpool auch in seinen Reihen hat, sondern der französische „Massaikrieger“ Mamadou Sakho und die „Dampfwalze“ Dejan Lovren. Beeindruckend, mit welcher Entschlossenheit sich der Riese aus Bosnien-Herzegowina zum Kopfball hochschraubte und das Leder in die Maschen katapultierte.

Kein deutscher Sieg in Anfield

Es bleibt dabei: Noch nie hat ein deutsches Team beim FC Liverpool siegen können. Woran es dieses Mal im Einzelnen lag, wird Konzepttrainer Thomas Tuchel sicher mit seinen Spielern analysieren. Fehlender Respekt wird es nicht gewesen sein. Den hatte Tuchel bereits im Vorfeld öffentlich gezollt: “Ich freue mich wie ein Kind, mit meiner Mannschaft in diesem Stadion zu spielen.“ Es gibt sicher eine Reihe von Ursachen, warum es für die Gelb-Schwarzen nicht funktioniert hat.

Shanklys Selbstverständnis

Am Ende müssen wir noch einmal auf Bill Shankly zurückkommen. In Liverpool erzählen sie, dass auf Veranlassung des legendären Coachs im Players Tunnel der Spruch „This is Anfield“ angebracht wurde. Bevor die Mannschaften aus den Katakomben auf das Spielfeld treten, lesen sie über ihren Köpfen diese Aufschrift. Sie ist mehr als ein Hinweis. Für das Home-Team ist sie Programm und Verpflichtung zugleich, für die Gastmannschaft mehr als eine Orientierung: Achtung! Trutzburg Anfield!