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Interview mit Lutz Wagner (ehemaliger Bundesliga Schiedsrichter)

Claus Coester führte dieses Interview am 23.07.2006

Foto © Claus Coester

Zur Person:

Lutz Wagner, 43 Jahre alt, verheiratet, 1 Tochter
Beruf: Fertigungsleiter und Unternehmer

DFB-Schiedsrichter (seit 1991 2. Bundesliga, seit 1994 Bundesliga)
Lehrwart des Hessischen Fußballverbandes

flw24 = Redaktion
LW = Lutz Wagner

flw24: Herr Wagner, natürlich interessiert es unsere Leser zunächst, ob Sie vor Ihrem Schiedsrichterdasein auch Fußball gespielt haben?

LW: In der Tat war ich bis zu meinem 19. Lebensjahr bei SV 07 Kriftel aktiver Fußballer, habe aber parallel dazu seit 5 Jahren schon gepfiffen. Dann war das zeitlich nicht mehr vereinbar und ich habe mich für das, was ich bis heute mache, entschieden. 

flw24: Wie kam es überhaupt dazu, dass Sie pfeifen?

LW: Das war zunächst reine Neugier. Ich habe, ohne das meinem Verein zu sagen, einfach angefragt und dann einen Lehrgang gemacht. Vielleicht spielte für den Vierzehnjährigen auch die kleine Aufbesserung des Taschengeldes eine Rolle. Im ersten Jahr wurden es dann 150 Jugendspiele. So nahm das seinen Lauf. Mit 16 Jahren durfte ich mein erstes Seniorenspiel leiten.

flw24: Verraten Sie uns, welches Ihr schwierigstes und welches Ihr schönstes Spiel war!

LW: Auf Anhieb fällt mir da das "Geisterspiel" Alemannia Aachen gegen 1. FC Nürnberg ein, ein Wiederholungsspiel wegen vorausgegangener Auschreitungen. Am Aachener Tivoli keine Zuschauer, am Fernsehen eine ganz hohe Resonanz. Sie hören natürlich viel mehr, was unter den Spielern gesprochen wird. Ein ganz komisches Gefühl gegenüber der sonstigen Geräuschkulisse. - Ein besonders beeindruckendes Erlebnis war die Partie St. Pauli gegen Rot-Weiß Oberhausen. St. Pauli lag zurück, brauchte aber zum Klassenerhalt einen Punkt. Sie können sich vorstellen, was am Millerntor los war, als Markus Marin in der 89. Minute der Ausgleich gelang.

flw24: Fällt Ihnen noch ein Highlight ein?

LW: Ja. Nach der WM 2002 hatte ich die Gelegenheit, zusammen mit mehreren Bundesligaschiedsrichtern für 5 Wochen in Südkorea zu sein. Dort hatte der Fußball nach der WM geboomt und so sollten wir den südkoreanischen Kollegen in der K-League (Profiliga, Anm. der Redaktion) in der Anfangsphase zur Seite stehen. Ein großartiges Erlebnis! Sehr disziplinierte Zuschauer und Spieler!

flw24: Herr Wagner, obwohl Sie zur ersten Garnitur der Bundesligaschiedsrichter gehören, pfeifen Sie nicht international. Wie kommt das?

LW: Da bin ich sozusagen Opfer meines Geburtsdatums. Als ich in die Spitze vorstieß, war ich zu jung. Da nahm die FIFA lieber Kollegen im mittleren Schiedsrichteralter. Und als die Zeit für mich gekommen war, war ich für die FIFA schon im fortgeschrittenen Alter. Da nahm man lieber wieder Jüngere. Aber ich darf auch mit dem, was ich erreicht habe, glücklich sein. Enttäuschung ist da fehl am Platz.

flw24: Wie wird jemand überhaupt zum FIFA-Schiedsrichter?

LW: Nun, der DFB macht von seinem Vorschlagsrecht Gebrauch und empfiehlt der FIFA die Kollegen. Der Weltverband entspricht dem dann auch im Regelfall. Der DFB hat mit Abstand die meisten Schiedsrichter in der Welt, genießt ein hohes Ansehen. Von der mittleren Generation könnte Florian Meyer, der schon internationaler Schiedsrichter ist (z.B. UEFA-Cupspiele), bald in die Top-Class nachrücken (d.h. Länderspiele und Champions-League).

flw24: Wer sind Ihre Top Drei unter den Schiedsrichtern?

LW: Natürlich gehört Markus Merk dazu. Nach meiner Meinung die aktuelle Nummer Eins in der Welt. Dann Lubos Michel aus der Slowakei und Jorge Larrionda aus Uruguay. Der hat im WM-Spiel USA gegen Italien eine richtungsweisende Entscheidung getroffen, als er den Ellenbogencheck nach der Regel mit Rot ahndete.

flw24: Über welche Fähigkeiten muss ein Schiedsrichter verfügen und was ist am Schiedsrichterjob besonders attraktiv?

LW: Nach meiner Auffassung sollte ein Schiedsrichter ein Gerechtigkeitsempfinden haben sozusagen als Basis. Ebenso psychologisches Geschick und Einfühlungsvermögen. Da ist es gut, wenn ein Schiedsrichter selbst gespielt hat. Körperliche Fitness versteht sich von selbst. Ständige Leistungsbereitschaft halte ich für sehr bedeutend. - Zum zweiten Teil Ihrer Frage: Ich leite grundsätzlich gerne ein Fußballspiel. Da mache ich auch keinen Unterschied, ob Amateure oder hochbezahlte Profis spielen. Man muss das, was man macht, gerne tun. Ich muss versuchen, das Projekt "Spiel" mit allen Beteiligten erfolgreich zu gestalten. Es muss eigentlich für alle Beteiligten ein Erfolgserlebnis sein, wenn auch Niederlage und Sieg mit im Spiel sind.

flw24: Herr Wagner, Sie bewegen sich seit Jahren auf einem sehr hohen Level. Hat man da noch Ziele?

LW: Das Schiedsrichtergeschäft ist ein Tagesgeschäft. Sie müssen immer Leistung bringen. Man kann da sehr schnell weg vom Fenster sein. Ziele? Nun, in diesem Jahr gehörte ich zum Kandidatenkreis für das Pokalfinale. Da aber Eintracht Frankfurt ins Endspiel kam, konnte daraus nichts werden. Denn als Mitglied des Hessischen Fußballverbandes darf ich kein Pflichtspiel der Eintracht pfeifen, die ja zum HFV gehört. So besagen es die Bestimmungen des DFB.

flw24: Lassen Sie uns einmal hinter die Kulissen des Schiedsrichteralltags schauen. Wie ist die Ansetzung organisiert?


LW: Den Schiedsrichterplan erstellt Volker Roth, der Vorsitzende des DFB-Schiedsrichterausschusses. Bis zum Wettskandal erhielten wir früher 14 Tage vorher Bescheid. Heute erfahren wir am Wochenanfang, ob wir Freitag, Samstag, Sonntag oder Montag ein Spiel pfeifen, aber noch nicht, welches. 48 Stunden vor dem Spiel kommt dann per e-mail die Mitteilung, welches Spiel wir zu leiten haben.

flw24: Dann werden Sie ja immer kurzfristig überrascht. Skizzieren Sie doch den Ablauf eines Spieltages mit Vorbereitung?

LW: Am Abend vorher bis 20 Uhr sollen die Schiedsrichterteams am Hotel sein. Wir dürfen übrigens nicht mit dem PKW anreisen. Also Bahn oder Flugzeug.Die Organisation der Reise veranlasst jeder dann über das DFB-Reisebüro. Am Morgen des Spieltages bespricht man sich mit seinen Kollegen, mit denen man ein Team bildet. Bis Mittag hat jeder dann Freizeit. Dann geht es los. Um 13.30 Uhr werden wir vom Fahrdienst des gastgebenden Klubs vom Hotel ins Stadion gefahren. 90 Minuten vor Anpfiff sollen die Schiriteams im Stadion sein.

flw24: Und dann beginnt die heiße Phase?

LW: Nun ja. Platzbesichtigung, warm laufen. Da begegnet man auch dem einen oder anderen der späteren Akteure.

flw24: Wie läuft das mit Passkontrolle und Kabinenbesuch?

LW: Das findet von Bundesliga bis Regionalliga nicht mehr statt. Wir sehen die Mannschaften erst im Spielertunnel kurz vor Spielbeginn, wenn es auf den Platz geht. Die Bögen mit Mannschaftsaufstellungen und den entsprechenden Angaben liefern uns die Verantwortlichen der Vereine. Im Zeitalter des PC wird in unserer Kabine alles über ein automatisches System kontrolliert. Wir werfen mehr oder weniger einen Kontrollblick auf die Unterlagen. Das System zeigt uns automatisch an, wenn etwas nicht in Ordnung ist, was z.B. Spielberechtigung oder Einsatz ausländischer Spieler betrifft.

flw24: Haben Sie persönlich ein bestimmtes Ritual, das Sie pflegen? Gibt es da ein Lieblingsstadion?

LW: Bei der Platzbesichtigung laufe ich stets im Uhrzeigersinn um den Platz. Lieblingsstadion? Nun, da kommt man um das Westfalenstadion in Dortmund nicht herum. Eine Stehtribüne mit ca. 25.000 Fans. Das ist schon eine tolle Atmosphäre.

flw24: Herr Wagner, kurz nach der WM können wir dieses Thema natürlich nicht ausklammern. Wo und wie haben Sie das Turnier erlebt?

LW: Ich konnte die Weltmeisterschaft aus zwei Blickwinkeln erleben. Einmal habe ich die FIFA-Schiedsrichter der Spiele in Frankfurt betreut. Das waren 5 Spiele. Da gab es manches schöne Wiedersehen. Und ich lernte neue Kollegen kennen. Auf der anderen Seite konnte ich aber auch als Fußballfreund das eine oder andere Spiel live sehen. Die Spiele waren ein großer Erfolg in vielerlei Beziehung. Deutschland hat sich sehr positiv dargestellt. Es war eine friedliche WM. Unsere Gäste haben gespürt, dass wir gute Gastgeber waren. Das ist etwas wert.

flw24: Ich darf Sie auf die wohl heikelste Szene der WM ansprechen, den Platzverweis von Zidane. Wie haben Sie das gesehen?

LW: Ich war selbst im Olympiastadion, konnte aber den Vorgang nicht beobachten. Der vierte Mann hat es wohl gesehen und dem Schiedsrichter signalisiert.

flw24: Welche Rolle hat dabei der Monitor gespielt?

LW: Der Monitor, der in der Nähe der Coachingzone steht, ist nicht für den vierten Mann bestimmt. Ob der Kollege einen Blick darauf geworfen hat, kann ich nicht sagen. Ich war nicht dabei. Die Regel sagt, dass der Fernsehbeweis vor Ort nicht herangezogen werden kann.

flw24: Was halten Sie in diesem Zusammenhang von dem Fernsehbeweis?

LW: Bei sog. Schwarz-Weiß-Entscheidungen sollten technische Hilfsmittel angewendet werden. Also dann, wenn durch die Kamera eindeutig nachgewiesen wird, ob der Ball die Linie überschritten hat. Denn dabei geht es nicht um eine Bewertung. Für alle übrigen Szenen (Abseits, Foul o.ä.) lehne ich den Beweis ab, da es sich um interpretierbare Aktionen handeln kann.

flw24: Noch einmal Themenwechsel. Wie haben Sie damals den Wettskandal aufgenommen? Haben Sie das für möglich gehalten?

LW: Ehrlich gesagt, nein. Ich war betroffen. Aber man muss sagen, es war ein Wettskandal, kein Schiedsrichterskandal. Es hat gezeigt, dass es gegen kriminelle Energie keine hundertprozentige Sicherheit gibt. Zum Glück ist das überwunden und das Image der Schiedsrichter hat nicht darunter gelitten.

flw24: Sind Sie je in Versuchung geführt worden?

LW:Nein.

flw24: Welches war Ihr erstes Bundesligaspiel? Waren Sie nervös? Was hat sich im Laufe der Jahre am Spiel geändert?

LW: Das war Bochum gegen Dresden im Ruhrstadion. Nervös? Angespannt, ja. Das muss ich aber auch heute sein, sonst bin ich nicht leistungsfähig. Änderungen im Spiel: Die Zweikampfdichte im Spiel ist größer geworden. Das stellt höhere Anforderungen an die Schiedsrichter. Vor 15 Jahren standen ein paar Kameras im Stadion und in der Sportschau kamen ein paar Spiele. Heute werden alle Spiele live übertragen und die Kameras verfolgen dich auf Schritt und Tritt.

flw24: Herr Wagner, vielen Dank für das Gespräch. Wir wünschen Ihnen alles Gute.