flw24 Experten-Tipp

Vom Risiko der weichen Leiste zum federleichten Grün

Sportmediziner Markus Bruckhaus-Walter zum Verletzungsrisiko auf Kunstrasen

Sportmediziner Markus Bruckhaus-Walter.

Seit Jahrzehnten wird auf Kunstrasen Sport getrieben. Über das Verletzungsrisiko wird vor allem dann diskutiert, wenn es um die populärste „Disziplin“ in Deutschland geht: den Fußball.

Für die Analyse sowie Beurteilung kunstrasenbedingter Sporttraumata muss man wissen, aus welcher Generation das künstliche Grün stammt, notiert der Herner Sportmediziner und Knappschaftsexperte Dr. Markus Bruckhaus-Walter.

Das erste Kapitel Kunstrasen wurde zu Beginn der 60er Jahre im  angloamerikanischen Raum aufgeschlagen. Dort verabschiedete man sich angesichts der pflegerischen Vorteile der Kunststoffspielfäche immer häufiger vom Naturrasen. Allzeit „Grün“, ohne mähen oder düngen, keine überstrapazierten grau-braune Felder ohne Bewuchs und im Nebeneffekt ideal für Gras-Allergiker.

Franz Beckenbauer musste sich in seiner  Amerikazeit bei Cosmos New York Ende der 70er Jahre gewaltig umstellen. Im Gegensatz zum Naturrasen veränderte sich das Ballverhalten und damit auch das, was europäische Spieler auszeichnete.

Die ersten Plätze hatten eine geringe Beschichtung mit viel Sand. Durch die vermehrte Sandbeimischung wurde der Untergrund sehr hart und das Abbremsen führte zu teils akrobatischen Bewegungsmustern. Daraus resultierten großflächige oberflächliche Hautverbrennungen 2. bis 3. Grades: Rötungen mit Blasen bis hin zum Verlust der oberen Hautschichten mit Narbenbildung.  

Gefahr auf stumpfem Boden

Auf dem stumpfen Boden waren kurze Drehungen und Laufrichtungswechsel schon physiologisch erheblich eingeschränkt. Gelenkbeschwerden, Kreuzbandrisse und Adduktorenzerrungen häuften sich. Schambeinreizungen und die „weiche Leiste“ waren eine typische Folgeerscheinung mit oft gravierenden Auswirkungen. Denn diese heilen nur nach monatelangen Belastungspausen und verlangen den Rekonvaleszenten enorme Geduld ab. 

Selbst die Aschenplätze waren zu diesem Zeitpunkt angenehmer zu spielen. „Schwalben“ im Strafraum reduzierten sich interessanterweise automatisch. Auch die deutsche Torwartlegende Hans Tilkowski berichtete 1970 in der Sportschule Kaiserau von eigenen äußerst schmerzhaften Erfahrungen.

Viele jugendliche Fußballbegeisterte verloren durch diese Beläge ihre Spielfreude und wechselten die Sportart. Was für eine „Katastrophe“: nicht abzuschätzen, wie viele mögliche „Ronaldos“ auf diese Weise in der Versenkung verschwanden oder auch nie entdeckt werden konnten.

Moderne Kunstrasenplätze federn

Modernere Kunstrasenfelder werden mittlerweile etwa zur Hälfte mit Granulat  und Sand gemischt. Darauf läuft und spielt man wie auf Federn. Die Spielfläche ist  nicht mehr so stumpf, Abbremsen und Richtungswechsel sind gefühlt wie auf Naturrasen möglich. Durch eine adäquate Bewässerung verbessert sich die Qualität des Bodens erheblich. Je mehr Granulat beigemischt wird, desto besser die Voraussetzungen für Techniker. Der Ball läuft „rund“, die Verletzungsrisiken sind deutlich reduziert. Somit ist ein gelenkschonendes Fußballspiel möglich geworden.

Eine Spielszene vom Wochenende. Benjamin Maurer von der SG Selters (links) im Zweikampf mit Florian Groß (SG Ahlbach/Oberweyer).

Auf der Insel wird „gemischt“ 

Die Entwicklung ist heute soweit gereift, dass das von der FIFA als neueste Generation vorgestellte Fußballfeld einer natürlichen Wiese nahekommt. Hinter dem vielfach gerühmten und berühmten englischen Rasen verbirgt sich beim Fußball mitunter schon ein Zwitter. Auf der Insel sind vermehrt Kunstrasen mit normalem Gras vermischt im Spielbetrieb.

Und wenn die Gelenke dennoch überstrapaziert werden, empfiehlt sich eine  Erstversorgung nachdem auch aus anderen Sportarten bekannt gewordenen Prinzip: PECH: Pause-Eis-Compression-Hochlagerung.

Erfahrene wie moderne Sportmediziner lassen sich Beschwerden oder die Verletzungsursache schildern und untersuchen betroffene Fußballer mit Hilfe der Magnetresonanztomographie (MRT), Sonographie wie auch dem konventionellen Röntgen. Um den Spieler  möglichst schnell wieder an den Wettbewerb heranzuführen, gibt es eine Reihe von Therapieoptionen. Knappschaftsexperte Bruckhaus-Walter: „Entscheidend ist es, den verletzten Spieler als Patient zu betrachten“; ihm also „Patientia“ - übersetzt Geduld - nahezubringen. Doch das  ist im medizinischen Alltag und sportlichen Wettbewerb überaus ehrgeiziger Fußballer häufig schwieriger als die Verletzung zu diagnostizieren und zu behandeln.

 

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