flw24 Experten-Tipp

Abstiegskampf: Über Stress, Angst und Burnout

Jörg Andersson von der KNAPPSCHAFT.

Auch wenn das Titelrennen Spannung wie lange nicht mehr verspricht: zum Countdown im Bundesligafinale verschreiben wir uns an dieser Stelle dem Existenzkampf. 

Im Tabellenkeller halten eine Handvoll Clubs verzweifelt nach dem rettenden Ufer Ausschau. Der vermeintliche Endspurt gleicht einem Schneckenrennen. Folter-Fußball strapaziert jedes Nervenkostüm. Zum Beispiel auf  Schalke. „Et hätt noch immer joot jejange“, lautet das rheinische Grundgesetz. In Westfalen wurde das Motto umgedreht. „Es ist noch immer schief gegangen“, formulierten die Anhänger der Knappen nach den vielen Vizemeisterschaften der vergangenen Jahre mit einer gewissen Selbstironie. Gilt die Titelkampf-Botschaft nun auch im Abstiegsstrudel, den Fans wechselweise mit Agonie oder Atemnot und Herzrasen beobachten?

Als fürsorglicher Vertreter einer Krankenkasse kann ich nur mahnen. 84 Prozent der Deutschen empfinden laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag der KNAPPSCHAFT ihre Stressbelastung ohnehin schon „mittel bis sehr hoch“. Da sollte man die Gesundheit von Spielern, Trainern sowie gewaltiger Anhängerscharen  nicht auf die leichte Schulter nehmen. Beruflichen Stress hat die Weltgesundheitsorganisation WHO zu einer der größten Gefahren des 21. Jahrhunderts erklärt. Achten Sie mal auf die gereizten und zynischen Antworten der Kellerkinder-Trainer. Verzweifelte Aufschreie aus den Presseräumen von Clubs, die ihre Übungsleiter durch die Bank in dieser Saison  bereits einmal ausgetauscht haben – und das mit überschaubarem Erfolg. Nur einer aus der Gilde erklärt sich für  immun. Er habe als Trainer keinen Stress sondern genieße jede Minute, ließ sich der im Abstiegskampf erprobte Peter Neururer entlocken. Seinen Herzinfarkt vor fünf Jahren führt er auf eine ganz gegenteilige Ursache zurück: eben, dass er zu jener Zeit keinen Job hatte. Ich formuliere es mal so: Feuerwehr-Trainer Neururer war nie um einen flotten Spruch verlegen, tickt etwas anders und legt listig noch mal eine  Bewerbung vor.

Stress und Angst sind tief verwurzelt

Stress versetzt den Menschen in einen Ausnahmezustand. Blutdruck und Blutzuckerspiegel steigen, Herzschlag und Atmung beschleunigen sich, die Muskulatur spannt an: der Körper mobil macht für Angriff oder Flucht. Dazu ein  Knappschaftsexperte aus  Gelsenkirchen: Dr. Matthias Weniger, Gründer und Vorsitzender des Instituts für Stressmedizin Rhein-Ruhr am Bergmannsheil Buer. „Stress ist zunächst eine natürliche Reaktion des Körpers auf eine außergewöhnliche oder gar gefährliche Situation. Bedingt durch die Evolution setzt der Körper bei Gefahr in Sekundenbruchteilen Energiereserven frei, die uns zu Höchstleistungen bringen“. 

Schön wäre es. Auf dem grünen Rasen vermag ich davon nichts zu erkennen. Hier scheint eher Murphys Gesetz zu gelten. „Was schiefgehen kann, geht schief.“ Die Nerven liegen blank. Mitunter mutiert der einfachste Querpass zum Querschläger.

Angst ist bei allen Abstiegskandidaten greifbar. Auch die ist tief im Menschen verwurzelt, betonen Wissenschaftler. Mitunter mahnen Ängste, einen Kampf zu vermeiden, zumindest den ungleichen. Klarer Fall: die Partien gegen die oberen in der Tabelle kannst du gleich abhaken und dich auf die sogenannten Sechspunkte-Spiele gegen die Mitkonkurrenten konzentrieren. Vorsorglich gilt dort: Krampf statt Kampf.

Passt in die Kategorie Agoraphobie, die laut Experten von einem „sehr hohen Vermeidungsverhalten“ gekennzeichnet wird.

Soziale Phobie Stadionbesuch 

Panikstörung und Angstgefühle schwappen bis auf die Fans über. Gibt es noch einen sicheren Ort, sprich rettenden Platz in der Bundesliga-Tabelle? Mir fällt an dieser Stelle das filmische Fassbinder-Melodram „Angst essen Seele“ auf.

Am Ende einer unheilvollen Entwicklungen steht die große Befürchtung vor dem Kontrollverlust, warnen Psychologen. Die körperlichen Symptome habe ich ja schon eingangs erwähnt: Panikattacken, Herzrasen, Atemnot, Schwitzen, Zittern, Übelkeit. Der Blick in den Kalender erscheint fast wie ein Menetekel. Einen Tag vor dem Bundesliga-Finale, am Freitag, 17. Mai, warnen Kardiologen  beim Welthypertonietag vor der gefährlichen Folgen des Bluthochdrucks, dem stillen Killer mit Schlaganfall oder Herzinfarkt im Schlepptau.

 

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So betrachtet erscheint die unter  Fans von Abstiegsmannschaften sehr verbreitete soziale Phobie ja fast harmlos. Ihr Erkennungszeichen: In der Angst, sich der Lächerlichkeit Preis zu geben und abgewertet zu werden, ziehen sich Betroffene reflexartig immer weiter zurück und meiden die Gesellschaft  von Bundesligaspielen, die überzeugte Anhänger über Jahre mit tiefster Zufriedenheit erfüllten, sinnstiftend, gemeinschaftsprägend und wie eine Daseinsberechtigung daher kamen. 

Zum Ende meiner Ursachenforschung ziehe ich noch eine harte Komponente ins Kalkül: Teams, die sich längst von feinen Kombinationszügen und jeglichem Spielwitz verabschiedet haben, sind womöglich schon  einen Schritt weiter und leiden unter Burnout: einer Diagnose, die in allen Arbeitsunfähigkeits-Statistiken an die Spitze strebt. Wir reden über den Zustand totaler körperlicher, emotionaler und geistiger Erschöpfung.  

Erstmals beschrieben wurde das Krankheitsbild in den 70er Jahren, vor allem als Phänomen in Sozialberufen,  wo hohes emotionales Engagement auf  geringen Erfolg und wenig Anerkennung stößt. Im Extremfall verlieren wir die Kontrolle über das eigene Tun, heißt es. Erschaudernde Paralleln zu den Teams im Tabellenkeller, die reihenweise Bälle verstolpern und selbst beste Chancen versieben.

„Oft ist Sport ein Wundermittel“

Als mögliche Burnout-Faktoren werden wenig Anerkennung und Angst vor Arbeitsplatzverlust genannt. Das  wiederum erzeugt Stress, der auf die Psyche schlägt.

Meine letzte Hoffnung: um den weiteren Leistungsabfall und ein Stadium des vollständigen Zusammenbruchs zu vermeiden, pflegen Fachleute einen guten, einfachen und wirksamen Rat: Bewegung, heraus finden, was Spaß macht und Energie gibt. 

 

„Oft ist Sport ein Wundermittel, sagt Knappschaftsexperte Dr. Matthias Weniger.

Dem kann ich mich mit Blick auf den Abstiegskampf nur anschließen. Wie wäre es denn zur Abwechselung mal wieder mit einem ansehnlichen Bundesliga-Kick. Das könnte allen Beteiligten zu dringend erforderlichen Entspannung verhelfen.

 

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